No man is an island
Cruising mit Isabella Fürnkäs
Vous êtes embarqué. – Blaise Pascal
Nach einigen Stufen hinab ins Dunkel öffnet sich im Souterrain des maßgeblich von dem Reformbewegungs-Künstler Henry van de Velde gestalteten Bau des Osthaus Museums ein Bad aus dem frühen 19. Jahrhundert. Das Licht ist gedimmt, Tageslicht dringt schräg aus einer anderen Galerie in den Raum. Boden und Wände sind in Erdtönen gefliest, organisch-floral geformte Säulen tragen Kreuzgewölbe. Ein rot eingefärbtes Seidentuch bildet darunter, mehrere Meter lang und als Baldachin gehängt ein zweites, sich in der Luft lautlos bewegendes Gewölbe. In dicken Pinselstrichen ist es mit undechiffrierbaren Zeichen bemalt. Wie ein roter Teppich – allerdings über dem Besucher schwebend – leitet es tiefer in den Raum.
Wenige Zentimeter kleine, auf Augenhöhe angeheftete Aquarelle geben manchen der Säulen, die man so geleitet passiert, ein Gesicht und so ein noch organischeres Antlitz. Sie changieren zwischen Kaffeeflecken und in bewusst gesetzten Strichen angefertigten Grafiken. Ihre Gesichtsausdrücke sind kaum eindeutig mit Worten aus dem Feld der Emotionen zu benennen. Maskenhaft und abstrakt – in doppelter Hinsicht als Grafik nur vorgehängt – verschließen sie sich vor dem Betrachter. In ähnlicher Weise erscheint auch die plastische Maske aus weißem Lehm dem Betrachter fern. Sie hängt nur durch einen Spot beleuchtet auf Augenhöhe in einer dunklen, blaugrauen Nische des Raums. Scheinbar sieht sie ihr Gegenüber aus ihren tiefen, verschatteten Hohlraum-Augen an. Dabei bleibt sie so fremd und verschlossen, wie die wasserspeienden Fabeltiere gotischer Kathedralen, die mythologischen Wesen römischer Brunnen oder die Masken afrikanischer Volkskunst, die im Zuge kolonialer Unternehmungen geraubt wurden. Der Lehm trägt noch Spuren von Isabella Fürnkäs Händen, die sie geformt haben. Er ist weniger selbst ein Körper als ein Negativ, ein Index, der auf ihren Körper deutet.
Ein wenig erinnert die Installation von Isabella Fürnkäs an eine Aufbewahrungsstätte für Reliquien. Im Mittelpunkt ihrer Ausstellung Metamorphoses of Control steht ein ephemeres Ereignis, das, wenn die meisten Besucher die Ausstellung besuchen, bereits vergangen ist. Die Performance The Raft of the Medusa fand aufgeführt von mehreren Performern am 6. Juli 2018 statt. Betrachten kann man nun nur noch ihre Überreste, wie eine bei Gefahr in Eile geräumte Wohnung oder auch einen gesicherten Tatort. Zurückgeblieben sind Häufchen von grauem Sand auf einer rechteckigen, weißgefliesten Plattform. Wie ein in sich verkehrtes Schwimmbecken bildet sie eine Insel im lehmrot gefliesten Raum. Auf der glatten Keramik zeigen sich in Blautönen schimmernde Projektionen von Wellen, Blasen und anderen, nur schwer als repräsentativ auszumachenden Bildern aus dem Strom des Internets. Sie strudeln nach Ende der sich ereigneten Szenen stoisch weiter, überfließen das uns vertraute Raster der industriellen Standardfliesen im endlosen Loop. Ein Bild überlagert das andere, tropft, läuft aus. Das Wasser umgibt in dieser Installation nicht die Insel, sondern ist selbst der von der Plattform markierte Schauplatz.
How can we talk
about what happened...?
Dried-out skin
Limb by limb
Cutting
Leaks into the soul
Holes into the heart
Gaps into the mind
Hopefully.
In der Performance – mit den vier Akteuren und ihren Interaktionen – erscheint die Plattform vielmehr wie ein dahintreibendes Floss, das nicht steuerbar ist und dem keiner der Protagonisten entrinnen kann. Zu Beginn sitzen diese mit vorgehaltenen weißen Keramikmasken auf der Plattform. Die Masken fallen nach und nach, die vier geraten in dem eng definierten Raum, der Situation aneinander und versuchen zu kommunizieren. Sie scheinen alle von dem gleichen Gefühl zu sprechen, dabei aber zumeist aneinander vorbeizusprechen – auch wenn sie im Chor zu hören sind. Sie sind Sirene und Schiffbrüchiger zugleich oder alternierend.
Ihre Dialoge laufen manchmal wie Wellen im Mund des anderen weiter. Voneinander sind sie trotzdem unbeeindruckt. Ewiges Rauschen im Hintergrund. Die Körper räkeln sich, weiße Kleidung macht sie ebenso zur Projektionsfläche wie die Plattform. Die Szene ist klangvoll, rhythmisch und lyrisch wie Shakespeare-Verse und eingängig wie ein Rap aus dem 21. Jahrhundert. Songtext-Zitate spitzen den Weltschmerz-Pop-Charakter zu. In ihren Monologen versucht die Figur der Performerin Cristiana, die Dinge für alle aus ihrer subjektiven Sicht zu resümieren.
Das Außen ist nur indirekt bildhaft durch die schwarz glänzenden Smartphones präsent, welche die Performer in Ihren Händen halten und von denen sie ihre Texte rezitieren. Das Ablesen bricht mit der Illusion eines klassischen Schauspiels. Ohnehin: Wer sagt schon, was er denkt? Zitiert man nicht ohnehin immer die gleichen Zeilen aus Schlagern und Romanen? Ist Sprache nicht bereits in ihrer Struktur repetitiv wie ein Echo und wie eine Spiegelung im Gegenüber? Gleichzeitig wirkt das Ablesen von den Screens auch wie eine verhaltene Innenschau. Wer auf den Screen schaut, muss dem anderen nicht in die Augen sehen. Der Zuschauer ist dabei in sicherer Distanz, vielleicht auch wie ein Voyeur, dem sich ein dramatisches Spektakel darbietet. Dabei sitzt er selbst mit im gleichen Boot, ohne sich dessen womöglich bewusst zu sein. Denn die Protagonisten der Performance sind weniger Charaktere als Stellvertreter, Projektionsflächen, die vor dem Betrachter Fragmente aus der meeresweiten Wirklichkeit, aus endlos sich immer wieder abspielenden zwischenmenschlichen Dramen auftauchen lassen.
Aus Fürnkäs Performances hört man leicht, dem Chor-Charakter entsprechend, vielmehr ein „Wir” statt ein Künstlerinnensubjekt zu sprechen. Man könnte vielleicht sogar mit Theodor Adorno sagen, der „Artist” wird „Statthalter des Gesamtsubjekts”.1 Eine Loslösung von Subjektivität, wie Adorno sie in seiner Ästhetischen Theorie fordert, ist praktisch nicht vorstellbar, aber manche Arbeiten – und aktuell insbesondere Performances – scheinen mehr über den momentanen Zustand einer Generation oder Gesellschaft zu sprechen als andere.
MARLENE
Pretty pictures were painted to be destroyed.
STEVEN
Your
IDAN
Personal Jesus
STEVEN
Left me
IDAN
Reach out
STEVEN
And touch faith
IDAN
The deepest waters
STEVEN
Black and Blue
IDAN
After drowning -
STEVEN
Who is who?
Das sich in der Performance abspielende Drama ist in seiner Struktur auch ähnlich einem Popsong, der neu interpretiert wird. Denn das Set-up erinnert an ein tableau vivant des Gemäldes „Das Floss der Medusa” (1818/1819) von Theodore Géricault, eine der Hauptattraktionen im Louvre-Museum. Der aus einem wohlhabenden Haus kommende Géricault konnte sich als einer der wenigen leisten, ein Bild seiner Wahl auf einer Leinwand von 30 Quadratmetern Fläche zu malen. Statt einer – damals für das Format üblichen – klassizistischen, heroischen Historienszene entschied er sich für die Darstellung einer neuen Art von Geschichte: einem inneren, psychologischen Drama. Er malte den Moment einer Tragödie, die sich kurz zuvor im Jahr 1816 ereignet hatte und unter Diskussionen durch alle Medien ging.
Ein Schiff soll den Royalisten Julien-Désire Schmaltz mit seiner Eskorte zur französischen Kolonie in den Senegal bringen, doch es läuft vor der afrikanischen Küste auf eine Sandbank. Rettungsboote sind nur für die privilegierten Passagiere vorhanden. Den 150 Besatzungsmitgliedern bleibt ein aus Brettern zusammengezimmertes Floß von sieben mal zwanzig Metern, das mit abgeschleppt werden soll. Einer der Offiziere kappt jedoch die Abschleppseile und das Floß treibt auf das offene Meer. Dreizehn Tage voller Hunger und Durst führen am Ende zu Kannibalismus. Auf dem Floß überleben nur fünf Menschen. Der französische Marineminister schreibt später an den König, dass die Geschehnisse auf dem Floß besser für alle Zeiten der Menschheit verborgen bleiben sollten. Nach der Aufklärung und der Französischen Revolution glaubte man sich des Wesens des Menschen sicher, vertraute man in Bildung und Moral – doch mit Géricaults Bild der Passagiere, die sich in existenzieller Not auf See gegenseitig aßen – beginnt in der französischen Kunstgeschichte die Epoche der Romantik. Er gibt dem Unfassbaren ein Bild, das nach seiner Enthüllung auf der Pariser Salonausstellung 1819 um die Welt ging. Seine kühle Dramatik machte es nur wenige Jahre später wohl zu einem der ersten sich „viral” verbreitenden Medienbildern. Seine Darstellungsweise ist jedoch überraschend wenig explizit – das Grauen findet im Kopf statt.
Trotz der Bilderströme in Fürnkäs Performance gilt dies auch für dieses abstrakte Floß. Obwohl mit der Gruppe in einem umgrenzten Raum, ist jeder der Performer allein. Trotz Kommunikation findet kein Austausch statt. Im digitalen Rauschen hört jeder seine eigene Stimme am lautesten, projiziert seine Bilder auf andere statt wahrzunehmen. Im Versuch, Halt im Treiben zu finden, vergisst man seinen Körper als Grenze und Kern der Existenz.
Auf dem Floß von Fürnkäs ist man zurückgeworfen auf seinen Körper; die Sprache der Performance ist durchzogen von Körperbegriffen und Naturmetaphern. Der Körper und die Natur sind dabei aber auch im positiven Sinn Mächte, die stärker als der kontinuierliche Strom von Informationen sind. Körper, Sprache und Emotion sind in Fürnkäs Arbeiten untrennbar und auf sinnlich-transzendente Weise verwoben – ob in lyrischen Sprachfragmenten, den Resonanzräumen der Stimmen in der Performance, den hingestrichenen Worten ihrer Aquarelle oder den von ihrer Hand geformten Keramiken.
IDAN
To sleep
STEVEN
To rest
IDAN
To die nicely.
STEVEN
No police.
IDAN
No hierarchy.
STEVEN
No excuses.
IDAN
Projections
Die Situation des Beobachtens einer Ausnahmesituation auf dem Meer erinnert unweigerlich auch an die Schiffbruch mit Zuschauer-Metapher, die der Philosoph Hans Blumenberg in den 1970-Jahren untersucht hat. Den Schiffbruch betrachtet er als philosophische Ausgangserfahrung. Blumenberg verfolgt das Motiv in der Weltliteratur bei Lukrez, Johann Wolfgang von Goethe oder etwa Friedrich Nietzsche, dabei ausgehend von dem frühgriechischen Weltbild, in dem der Ozean von Göttern und Dämonen als beherrscht galt. Als Gegenteil zum bewohnbaren Festland galt er für den Menschen als unberechenbare, gesetzlose Sphäre – das unbekannte Außen. Die Seefahrt mit ihren Unwägbarkeiten, den Gezeiten und ihrer Abhängigkeit von Wetterphänomenen wurde ein Bild für die Hybris des Menschen, seine leichtsinnige Grenzüberschreitung und Maßlosigkeit in der Gier nach Profit aus dem Handel.5
Das Meer ist heute durch einen digitalen Ozean ersetzt, aber nach wie vor sind wir gerade in Europa immer noch an den Warenhandel aus Übersee gebunden und geografische Besonderheiten und Begebenheiten bestimmen trotz aller Diskussionen um Digitalisierung und Globalisierung die Weltwirtschaft. Vielleicht sind unsere Körper und ihre oft tabuisierten Begierden letzte Reste des bedrohlichen, unkontrollierbaren Ozeans der Griechen in unserer kontrollierten, digitalisierten Gegenwart. Wir befinden uns als Gesellschaft immer gemeinsam in einem Strom, den wir – zumindest in unserer Wahrnehmung – nicht aufhalten können. Die Bedrohung ist vielleicht weniger das Andere, sondern die von uns selbst produzierten Wellen. Und bedauerlicherweise braucht es neue Flöße im Mittelmeer und Bilder von ihnen, um wieder aus einer Art emotionalen Erkaltung auszubrechen.
ALLE
And the waves
And the waves
And the waves
And the waves
And the waves
Die Erweiterung der Schiffbruchsmetapher – „mit Zuschauer” – bezieht auch den Standpunkt eines Beobachters an der Küste ein, welcher der Todesbedrohung der Schiffspassagiere beiwohnt. Der römische Autor Lukrez bringt diese Variation als Erster auf. Aufgrund seines erhabenen, nicht betroffenen Standpunkts, der ähnlich dem einem Philosophen ist, unterstellt er dem Zuschauer bei der Betrachtung der Szene ein Gefühl von Genuss, das nicht mit Schadenfreude zu verwechseln ist. In Hinblick auf Lukrez’ Konfiguration der Metapher wurde im Anschluss die Rezeption von Kunst und ihre fiktionale Wirkung theoretisch verhandelt. Dabei werden philosophische Fragen nach der Natur des Menschen aufgeworfen, welche sich die Gesellschaft angesichts der schnell zirkulierenden Medienbilder heute genauso stellen muss. Ist der Zuschauer betroffen, schadenfroh, oder kann er Leid abstrakt begreifen und genießen? Was bedeutet Identifikation?
Für die Performance-Theoretikerin Erika Fischer-Lichte haben Kunst, kulturelle Phänomene und Prozesse die Kraft, neue Wirklichkeiten hervorzubringen, – weniger als dass sie als Zusammenhänge von Zeichen zu begreifen sind, die es final zu entziffern und zu verstehen gilt. Das Medium Performance im Speziellen ermöglicht in Fischer-Lichtes Theorie das Umspringen der Aufmerksamkeit des Wahrnehmenden auf den Wahrnehmungsprozess selbst und zugleich auf seine besondere Dynamik: „Der Wahrnehmende fängt an, sich selbst als Wahrnehmenden wahrzunehmen, was spezifische Bedeutungen hervorbringt, die nun ihrerseits weitere Bedeutungen erzeugen, die auf die Dynamik des Wahrnehmungsprozesses einwirken und so fort. Dem Wahrnehmenden wird zunehmend bewusst, dass ihm Bedeutungen nicht übermittelt werden, sondern dass er es ist, der sie hervorbringt (...).”2
Im Unterschied beispielsweise zur Theaterinszenierung ist die Performance in ihrer Aufführung in keiner Weise ein fixiertes, in sich geschlossenes Werk, sondern ein unwiederholbares singuläres Ereignis. Dieses kann nur erfahren werden als ästhetischer, religiöser, sozialer oder sogar „politischer Prozess, in dem Beziehungen ausgehandelt, Gemeinschaften gebildet und wieder aufgelöst werden.” – „ein ,chaotischer’ als auch ein zielgerichteter Prozess.”3 Sinnlichkeit und Transzendenz, Chaos und Kontrolle schließen sich in dieser Praxis nicht aus. Schönheit kann man im wahrnehmenden Annehmen des Durcheinanders, den Wellen und den psychedelisch ineinander tropfenden Sätzen und Bildern entdecken, etwa im Sinn der Definition eines alternativen Sublimen von Mike Kelly: „I think that kind of discussion of the sublime is a nineteenth-century metaphysical discussion, like Edmund Burke or the American Transcendentalists. (...) For me, psychedelia was sublime because in psychedelia, your worldview fell apart.”4
Als Zuschauer von Isabella Fürnkäs Performance kann man nach der Erfahrung dieses Zerbrechens ähnlich wie die Performer auf der Ebene des Wassers ankommen – dem Meeresspiegel als Null- und Anfangspunkt von allem.
(1) Theodor Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1970, S. 250.
(2) Erika Fischer-Lichte: Performativität: Eine Einführung, Bielefeld 2012, S. 67.
(3) Fischer-Lichte: S. 68.
(4) Mike Kelley: Language and Psychology, Interview auf PBS.
org, September 2005, wiederpubliziert auf https://art21.org/read/ mike-kelley-language- and-psychology, o.S..
(5) Vgl. Blumenberg, S. 33.